Wie das wohl früher war… als die Menschen in der Natur nach Wildkräutern wie etwa den Giersch suchten, um Hungersnöte zu überstehen oder während der Weltkriege ihre Vitaminzufuhr zu sichern. In der heutigen Zeit der Nahrungsergänzungsmittel kaum mehr vorstellbar. Genug Anreiz für mich, meine Crew zu aktivieren und eine Kräutersuche als kulinarisches Micro Adventure bei uns in der Hallertau auszuprobieren. Unser Plan ist es, so viele Wildkräuter in der freien Natur zu sammeln, dass wir damit ein Faltenbrot backen können. Das wird unser erster Versuch, zudem hat es draußen gerade einmal 3 Grad. Also, maximaler Einsatz! Wir sind neugierig und uns läuft das Wasser schon im Mund zusammen.
Praktischerweise kennt mein Abenteuerkollege Tobias sowohl ausreichend essbare Wildkräuter als auch einige Standorte, wo sie hoffentlich auch schon jetzt, Mitte März, wachsen. Ich alleine hätte selbst mit Kräuterbuch keine Chance gehabt, die Aktion in einem halben Tag und ohne Kollateralschäden durchzuziehen. Einige Kräuter wie zum Beispiel Bärlauch oder Scharbockskraut sollte man nicht nach ihrer Blüte essen, andere wie das Maiglöckchen, das dem Bärlauch ähnlich sieht, sind sehr giftig. Wir geben zwar wie Deadpool „maximalen Einsatz“, aber die Selbstheilungskräfte des Marvel-Superhelden haben wir leider nicht. Am besten lässt man sich von einem Experten wie einem Wildkräuterpädagogen instruieren oder tastet sich vorsichtig mithilfe guter Literatur heran. Oder man hat Glück und Freunde, die Ahnung haben und mit anpacken. So auch unsere Ladies Elena und Anna, die beim Sammeln mithelfen und die Hefe vorbereiten.
Wir starten an einem frischen Sonntagnachmittag, die letzten Wochen war es kalt mit Nachtfrösten, es hat sogar ein paar Mal geschneit. Falls wir Kräuter finden, sind sie sicher noch zart, frisch und wohlschmeckend. Wir steigen einen steilen Wiesenhang hinauf, der ein paar hundert Meter von Elenas und Tobis Zuhause entfernt ist. Elena verzieht das Gesicht, als uns kalter Wind entgegenbläst. Doch bald schöpfen wir Hoffnung. Wir entdecken die ersten Farbtupfer in der noch recht braunen und tristen Umgebung: violette und weiße Krokusse läuten neben Schneeglöckchen und himmelblauen Hasenglöckchen den Frühling ein.
Ein paar Minuten später sind wir an unserem ersten Kräuter-Spot, einem kleinen schattig-feuchten Waldstreifen, der von Wiesenhängen unterbrochen wird. Hier finden wir zuerst das herbe, etwas scharf schmeckende Scharbockskraut (Verwechslungsgefahr mit Hahnenfuß-Gewächsen!). Fällt der Geschmackstest „stechend-bitter“ aus, hilft Trocknen vor dem Verzehr. Aufgrund seines hohen Vitamin-C-Gehalts gehörte dieses Kraut früher zum Reiseproviant von Seefahrern, die zwar Zitronen und Sauerkraut, aber meist kein Gemüse oder Obst auf ihren Seereisen dabeihatten. So konnten sie der Vitamin-C-Mangelkrankheit Skorbut vorbeugen. Daher lautet die alte Bezeichnung für Skorbut „Scharbock“. Ist Etymologie nicht etwas Schönes? Ein paar Meter weiter spitzt auf circa 75 Quadratmetern frischer Giersch aus dem Boden. Für die meisten ist der Doldenblütler ein Unkraut, das den Garten zuwuchert. Roh schmeckt und riecht Giersch ein wenig wie Möhren oder Petersilie gemischt mit dem harzigen Aroma einer Mango, gekocht dann hingegen wie Spinat. Am dreikantigen Blattstiel kann man ihn gut erkennen und von ungenießbaren und giftigen Arten wie dem Gefleckten Schierling oder Breitblättrigem Merk unterscheiden. Ich beginne zu sammeln, während Elena und Tobi – Vogelschützer, die sie sind – die Vogelfütterung im benachbarten Wäldchen neu auffüllen. Das Ernten ist relativ mühsam, weil der Giersch nur circa ein paar Zentimeter aus dem Boden schaut, dafür ist er an Frische nicht zu überbieten.
Als wir wenig später auf einem kleinen Pfad ein Schlehendickicht durchqueren (hierher müssen wir in einem Monat zur Blüte unbedingt zurückkommen!), überrascht uns ein melancholisch tönendes Klü-Klü-Klü-Klü: die fallende Rufreihe eines Grauspechts, was deshalb etwas Besonderes ist, weil diese Spechtart weitgehend heimlich lebt. Wir flirten ein, zwei Mal mit ihm, indem wir seinen Ruf nachahmen, lassen ihn dann aber in Ruhe, so dass er von dannen flattert und wir weiterziehen. An einem stillgelegten Hopfengarten finden wir einen Teppich von Vogelmiere. Gut für uns, denn die Vogelmiere gehört in die Teigmasse für unser Brot. Unsere Vorfreude wächst, keiner von uns hat schon einmal so etwas Aufwendiges und Deftiges wie ein Brot mit Wildkräutern gemacht. Mittlerweile müssen wir immer wieder die klammen Finger in den Handschuhen aufwärmen, da uns das Gefühl aufgrund des kalten Windes abhanden kommt. Nebenbei naschen wir ein wenig, die Vogelmiere schmeckt wie junger, roher Mais oder Erbsen, einfach immer wieder überraschend. Nach dieser Station verabschiedet Elena sich, um mit Anna den Teig vorzubereiten.
Tobi und ich machen an einem sandigen Ranken mit Ginster- und Holunderbüschen Halt. Obwohl es hier relativ braun und erdig aussieht, entpuppt sich der kleine Hangstreifen als vielseitiger Mikrokosmos. Das bittere Schaumkraut und die Ackerveilchen interessieren uns zwar nicht, daneben finden wir aber das vielseitige Wiesen-Labkraut (schmeckt wie eine Mischung aus Rucola und Kopfsalat) und Ehrenpreis, der mit einem bitter-herben und leicht balsamischen Geschmack als Heilkraut Tradition hat. Langsam dämmert es, dazu kommt leichter Hagel, unser Korb ist erst halbvoll. Es muss noch etwas her, wenn wir unser Plan gelingen soll!
Ich würde gerne noch Bärlauch und Brennnesseln finden. Letztere weisen viele Mineralien, Vitamin A und C, Eisen und Eiweiß auf und würden unseren Korb schneller füllen, da sie meist in Gruppen wachsen. Ich treibe uns zu einer kleinen Runde durch den Wald an. Auf dem Weg dorthin zieht es mich wie magisch zu einem Feldweg, der von einem circa 1 Meter breiten Wiesenstreifen begleitet wird. Ich schaue genauer hin, schiebe das lange, welke Gras zur Seite und entdecke… Brennnesseln! Entweder ist es pures Glück, denn bis dahin hatten wir noch keine Spur von ihnen gesehen. Oder ich habe Brennnesseln (ggfs. mit Schere oder Handschuhen ernten und die Blätter, waschen, walzen und klein schneiden, um die Wirkung der Nesselhaare zu neutralisieren) beim Spazieren, Wandern oder Joggen schon so oft in ähnlicher Umgebung gesehen, dass mir unbewusst klar war, wo sie ungefähr zu finden sind. Eine verrückte Erfahrung. Ein bisschen peinlich, weil ich gerne besser über die Pflanzen und ihre Standorte Bescheid wissen würde. Aber auch irgendwie cool, dass man unterschwellig über solche Informationen zu verfügen scheint. Man müsste sie nur aktivieren. Die purpurrote Taubnessel von nebenan schmeckt überraschend waldig-pilzig, ein zusätzlicher Gewinn für unser Brot!
Bei unserer kleinen Runde im Wald finden wir zwar keinen Bärlauch, aber am Waldrand noch ein paar Nesseln und einiges an Vogelmiere. Wir begegnen zwei Hasen, in diesem Fall Konkurrenten um die frischen Kräuter. Als es schon fast dunkel ist, entdecken wir im lichten Wald zwischen jungen Brombeerpflanzen ein stattliches Gierschvorkommen. Die Pflanzen hier sind schon deutlich größer als ganz am Anfang unserer Unternehmung und wir nutzen die Chance, um unseren Korb voll zu machen. Mit Sammeln und Fotografieren waren wir gut vier Stunden unterwegs, jetzt hoffen wir, dass Teil zwei, das Backen unseres Kräuterbrotes, ebenso gut wie das Sammeln verläuft.
Unsere Ladies haben mittlerweile schon den Teig mit Dinkelmehl, Wasser, Hefe, Salz, Honig, Olivenöl und der kleingehackten Vogelmiere zubereitet, letztere dient zur Färbung und um dem Geschmack noch eine weitere Note zu geben. Nun hacken wir Mozzarella, die Zwiebel, den Bärlauch vom Vortag und die restlichen Kräuter klein, fügen Salz und Pfeffer hinzu und verteilen die Mischung auf dem ausgerollten, grünlichen Teig. Sieht schon mal vielversprechend aus, wir haben genau die richtige Menge an Kräutern zusammengebracht. Wir schneiden den belegten Teig in Streifen und legen ihn so zusammen, dass es in eine Backform passt. Danach kommt das Faltenbrot für 30 bis 60 Minuten bei 180 Grad in den Ofen. Tobi und ich kochen in der Zwischenzeit eine Suppe draußen am Lagerfeuer, die ebenfalls ein paar unserer Kräuter abbekommen hat. Unser Abendessen verfeinern wir stilecht mit Zutaten aus unserer Heimat: Wildsalami und -pfefferbeißer aus dem Jagdrevier meines Vaters, Mutterns Haselnussmuffins mit Nüssen aus der Plantage meiner Tante und Blaubeeren, die ich letzten Sommer im Feilenmoos geerntet und eingefroren habe. So einfach und solch Luxus zugleich… Trotz unseres Hungers halten wir inne und freuen uns über so gute, natürliche und gesunde Nahrungsmittel. Und dazu kommt als Hauptdarsteller unser frisch gebackenes Kräuterbrot. Das sehr „grün“, erstaunlich gut und zu verschiedensten Speisen schmeckt. Auch wenn wir es nächstes Mal noch stärker würzen dürfen, sind wir mit unserem ersten Versuch überaus zufrieden. Mit vollen Bäuchen, von Nesseln brennenden Fingern und viel Lachen klingt unser Tag aus. Maximaler Einsatz – maximales Ergebnis.