März 2016! Damals durchstieg Simon Gietl die attraktive Traverse mit dem Bergführer und Kletterer Michi Wohlleben als klassische Seilschaft. Im Laufe dieser Tour pflanzte sich der Gedanke, die Traverse komplett auf sich allein gestellt zu durchsteigen, in Simons Kopf.
Vom Suchen und Finden eines Traums
Mit Träumen, Ideen und Wünschen verhält es sich meist ähnlich. Sie entwickeln sich oft langsam und zeitweise unbemerkt, bis sie Ausmaße angenommen haben, die mit Worten schwer zu beschreiben sind. So war es auch beim Südtiroler Alpinisten und LOWA-PRO-Team-Athleten Simon Gietl.
„Jedes Mal, wenn ich das eindrucksvolle Felsengestirn der Drei Zinnen sehen konnte – egal ob auf irgendeiner Werbebroschüre, auf einem Instagram-Post oder einem illustrierten Magazin – musste ich an eben diesen Plan denken.“ - Simon Gietl | LOWA PRO Team
4 Jahre
Doch noch war es nur ein erster Gedanke, ein Plan. Er musste erst zur Idee reifen und dafür brauchte es Zeit. So viele verschiedene Faktoren gehörten dazu – unter anderem die eigene Entwicklung, sowohl körperlich als auch mental. Aber wann ist der Geist für eine kühne Solo-Traverse an den Drei Zinnen bereit? Simon konnte den Zeitpunkt genau benennen! Nach der erfolgreichen Solo-Erstbegehung der Route „Can you hear me“ an der Cima Scotoni, die Simon seinem verunglückten besten Freund Gerry gewidmet hatte, war es ihm klar: „An dieser Grenzlinie entlangzuklettern, ließ mein Selbstvertrauen so weit anwachsen, dass ich mich für das Solo-Projekt an den Zinnen bereit fühlte.“
Ein Traum wird wahr
Am Samstag, den 22. Februar, nach vier Jahren war der Traum nun zum Greifen nah. Simon transportierte das sorgfältig ausgewählte und ausschließlich für ihn am besten in Frage kommende Material an den Einstieg. Der angekündigte Wind mit Spitzen bis zu 80 km/h trübte Simons Zuversicht über das ansonsten verhältnismäßig mild vorausgesagte Wetter. Um sich einen besseren Überblick über die aktuellen Verhältnisse zu verschaffen und den starken Nordwestwind besser einschätzen zu können, stieg der LOWA-PRO-Team-Athlet ein paar Meter in die Wand ein. „Das Klettern fiel mir ziemlich leicht und mein Bauchgefühl sendete mir ein erstaunlich positives Feedback. Nun war mir klar, dass der Moment für das Soloprojekt gekommen war“, beschreibt der Alpinist den Beginn.
Am nächsten Morgen fiel dann der eigentliche Startschuss für die Solo-Tour. Mit jeder vergangenen Seillänge wurde der Traum für Simon zur Wirklichkeit: „Beinahe fühlte ich mich wie ein Musiker, der das ausgiebig geübte Stück nun endlich vor einer großen Kulisse präsentieren kann. Im Unterschied dazu befand ich mich weder in einem großen Konzertsaal, noch kletterte ich vor Publikum. Ganz alleine, an der eindrucksvollen Kante hangelnd, genoss ich insgeheim die Einsamkeit und den Bewegungsfluss, der sich scheinbar automatisiert hatte.“ Dabei hatte der erfahrene Alpinist stets die Gefahren seines Alleingangs im Hinterkopf. Fehler sind beim Klettern grundsätzlich gefährlich, aber alleine können sie noch gravierendere Auswirkungen nach sich ziehen. Dennoch ließ sich der erfahrene Alpinist nicht aus der Ruhe bringen und konzentrierte sich auf die Erfüllung seines Traums. Trotz des starken Nordwestwindes, der Simon im Vorfeld einiges an Kopfzerbrechen bereitet hatte, lief es gut und es ging zügiger voran als ursprünglich gedacht. Den höchsten Punkt der Westlichen Zinne erreichte er noch im Tageslicht. Um die hellen Stunden noch optimal zu nutzen, stieg er die ersten Meter der Dülferverschneidung bereits jetzt hoch und fixierte sein Kletterseil für den nächsten Tag. Danach seilte sich Simon zurück zum Biwakplatz ab und richtete sich für die Nacht ein – da entschied er, dass die Tour nun sogar mit nur einem Biwak anstatt wie ursprünglich geplant mit zwei Biwaks funktioniert.
Am Montagmorgen gegen 7.00 Uhr beendete Simon seine unruhige und windige Nachtruhe und startete mit leichtem Gepäck vom Biwakplatz in Richtung Großer Zinne. Bereits um 9.20 Uhr erreichte er den Gipfel im Sonnenschein und bei nachlassendem Wind.
Von hier blickte er auf den Weg, der noch vor ihm lag: Die Schlucht zwischen Großer und Kleiner Zinne, der Gipfel der Kleinen Zinne, der scharfe Grat zur Punta di Frida, der Abstieg von diesem Gipfel über die Nervenschlucht zum Preußturm. Eine erste und aufgrund des hohen Tempos notwendige Pause gönnte er sich am Wandfuß der Kleinen Zinne.
„Ein schonungsloses und starrköpfiges Weitersteigen hätte unbestritten weitreichende Folgen haben können. So kauerte ich mich für einige Minuten in eine Nische und führte einen wichtigen Monolog: ‚Simon bleib ruhig, konzentriert und finde wieder einen kontrollierten Rhythmus.‘ Nach wenigen Augenblicken erlangte ich wieder die nötige Ruhe und Geduld, um mit der notwendigen Sicherheit weiterklettern zu können.“ - Simon Gietl | LOWA PRO Team
Mittags überschritt er den Gipfel der Kleinen Zinne, bestritt den Sattel zur Punta di Frida, um dann um exakt 14 Uhr auf dem letzten Gipfel – den des Preußturms – zu stehen.
„Das erste Mal nach langer Zeit blickte ich in die Ferne und genoss ausgiebig den Weitblick. Zum nahezu kitschigen Ausblick in die Ferne gesellte sich zeitgleich auch ein scharfer Tiefblick in die eigene Gefühlswelt. Einzelne Tränen der Freude glitten mir über die frostigen Backen. Die Zinnentraverse konnte mir das bieten, auf dessen Suche ich ständig war. Auf diese Weise rahmte ich mir den besonderen Moment auf dem letzten Gipfel der Traverse nicht nur bildlich, sondern auch emotional in mein Gedächtnis ein.“ - Simon Gietl | LOWA PRO Team
Westliche Zinne (2.973 Meter), Große Zinne (2.999 Meter), Kleine Zinne (2.857 Meter), Punta di Frida (2.792 Meter) und Preußturm (2.700 Meter) – als erster Alpinist überhaupt traversierte der LOWA-PRO-Team-Athlet Simon Gietl die Gipfel der Drei Zinnen in dieser Reihenfolge im Alleingang und erfüllte sich damit einen langgehegten Traum.