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Pilgern zum Naturdenkmal: Ein Microadventure in die Binnendünen

Pilgern zum Naturdenkmal: Ein Microadventure in die Binnendünen

MICHAEL URBAN ENTDECKT DIE LOWA-HEIMAT­REGION.

  • CHARAKTER:

    Freie Wanderung durchs tertiäre Hügelland in Bayern

  • START DER TOUR:

    Gosselts­hausen bei Wolnzach

  • ENDE DER TOUR:

    Binnendünen bei Siegenburg

  • DAUER:

    05:30 Stunden

  • DISTANZ:

    27 km

  • BERGAUF:

    358 m

  • BERGAB:

    370 m

  • AUSRÜSTUNG:

    Wander­kleidung, leichte Wander­schuhe, Rucksack mit Essen und Getränk, Handy/Karte (Navi­gation, Abholung)

Ein sonniger Sonn­tag­morgen im März. Es hat –4 Grad, hauch­dünnes, weißes Eis bedeckt die Wasser­pfützen. Raureif liegt noch in den Schatten der Hallertau, jenen baye­rischen Hügel­landes, wo der Hopfen wächst. Mein Wander­kollege Tobias und ich stehen grinsend in den Start­löchern, die Vorfreude steht uns ins Gesicht geschrieben. Der Grund: wir wollen gleich mehrere Dinge auspro­bieren, die wir noch nie gemacht haben. Erstens wollen wir ein uns noch unbe­kanntes Natur­denkmal aufsuchen, die Binnendünen bei Siegenburg. Zweitens wollen wir nicht nur dorthin wandern, sondern pilgern. Und drittens wollen wir schauen, inwiefern das alles in den einfachen, günstigen, regi­onalen und erschwing­lichen Rahmen eines Micro Adventures passt. Challenge accepted!

Allerdings wäre da noch ein kleines Hindernis… Obwohl wir beide im römisch-katho­lischen Altbayern aufge­wachsen sind, wo zum Beispiel das Pilgern nach Altötting Tradition hat, sind wir noch nie gepilgert. Also haben wir versucht, das Thema für uns zu erschließen. Verfolgt man das Wort „Pilger“ zu seinem Ursprung zurück, endet man beim latei­nischen Adverb „per-egrē“, was so viel wie „aus, in der, in die Fremde“ heißt. Außerdem braucht ein Pilger ein symbo­lisches Ziel, woraufhin uns die unter Schutz stehenden Natur­denkmäler einge­fallen sind. Eine Recherche ergab, dass es hier bei uns im Hopfenland einige solcher Denkmäler gibt: Felswände, Stein­brüche, Bäume, Gruben, Quellen, Höhlen, Weiher, Kapel­lenhügel und… Dünen. Dünen? Das klang viel­ver­sprechend. Noch dazu liegt das Natur­schutz­gebiet mit den Binnendünen bei Siegenburg im Dürn­bucher Forst, der mit 44,74 km² eines der größten Wald­gebiete Bayerns ist und den wir auch noch nie durch­wandert haben. Das mit dem „in der Fremde sein“ ging schon mal in eine gute Richtung. Doch würde sich auch bei einer solch „kleinen“ Pilgerreise schon das ange­strebte Zu-sich-Kommen und Entschleunigen einstellen? Wie würde sich unser Trip von einer normalen Wanderung unter­scheiden? Was würden wir vorfinden? Wir sind gespannt.

Wir starten von Gosselts­hausen bei Wolnzach aus, das Auto­bahn­dreieck Holledau lässt grüßen. 27 Kilometer haben wir vor uns. Bereits nach einem Kilometer entdecken wir einen schattigen, mit Raureif über­zogenen, steilen Wiesenhang, über dem ein Ranken mit Buchen thront, der das sanfte Morgenlicht nur in weich­ge­zeichneten Streifen hindurch­scheinen lässt. Im Hintergrund das wellige Hügelland mit rötlichen, hölzernen Hopfen­säulen, das ist Vintage Hallertau – ein würde­voller, feier­licher Auftakt, wie man sich ihn fürs Natur­pilgern nicht besser vorstellen könnte. Es ist ein stiller Morgen, nur wenige Menschen sind unterwegs. Wir fangen ein paar verdutzte Blicke ein, wandernde „Rucksack-Dudes“ sind hier die Seltenheit. Die Vögel (Girlitz, Feld­lerche, Grün­specht, Kleiber, Meisen, Mistel­drossel, Amsel), die wir am Anfang noch auf den Feldern und zwischen Ranken und Wald­streifen gehört haben, hören wir nur noch selten aus der Ferne. Der Asphalt und die um uns liegende Stille lassen unsere Stimmen verloren klingen.

Wir passieren Nieder­lau­terbach und sehen bald auf der gegen­über­lie­genden Anhöhe die Wall­fahrts­kirche von Rottenegg. Auch wenn sie uns nach gut sieben Kilo­metern einen zusätz­lichen Anstieg abverlangt, können wir uns diese Station auf unserer heutigen Tour natürlich nicht entgehen lassen. Der Ausblick vom Kalva­ri­enberg über den Ort und das Hügelland ist den kleinen Umweg wert. 1150 wurde hier eine Burg erbaut, davon zeugt noch die Gruft, die ein wenig unterhalb der Berg­kirche liegt und früher zu den Keller­ge­wölben der Burg gehörte. 1704 wurde die Burg während des Spanischen Erbfol­ge­krieges von brand­schat­zenden öster­rei­chischen Reitern und englischen Husaren schwer beschädigt. Die Gräfin Rivera ließ aus den Mauer­über­resten 1722 als Andenken an die einstige Burg eine Kapelle erbauen, neben der sich immer noch das Grab des fran­zö­sischen Briga­de­ge­nerals H. Lambert befindet.

Für mich geht es ab Rottenegg „in die Fremde“, für Tobi geht es Richtung Vorfahren. Wir durch­queren mit dem 12-Uhr-Läuten Ober­met­tenbach und entdecken nach einer kleinen Hügelrallye in Ober­pindhardt einen Hof, an dem ein Schild mit der Bezeichnung „der Schmie“ hängt – es ist der Hof, wo der Bruder von Tobis Großvater dem Schmie­de­handwerk nach­ge­gangen ist. Hausnamen sind in der länd­lichen Gegend eine schöne Tradition, so kommt nach der kleinen geschicht­lichen Exkursion an der Berg­kirche nun noch ein Stück Fami­li­en­ge­schichte hinzu. Wir schwelgen bereits in Erin­ne­rungen und Vorstel­lungen über die Gene­ra­tionen vor uns, noch ehe wir die Hälfte der Strecke hinter uns gelassen haben. Als wir auf eine T-Kreuzung zugehen und uns fragen, wohin wir abbiegen müssen, taucht wie von Zauberhand im Hof neben uns ein grau­me­lierter, freund­licher Herr auf, der mit seinem perfekt sitzenden schwarz-roten Puma-Jogging-Anzug aus dem länd­lichen Ambiente heraussticht. Wie sich herausstellt, ist sein Style-Faktor ebenso hoch wie seine Orts­kenntnis. Pilger-Glück. Wir schnappen ein paar Routentipps auf und passieren auf dem Weg nach Aiglsbach einen steilen Wiesenhügel, der am Fuß mit harzig-duftenden Holz­stößen gesäumt und auf der Kuppe mit einzelnen Kiefern bestückt ist. Ein wunderbares kleines Idyll, das uns ans Altmühltal oder die Toscana denken lässt.

In Aiglsbach grüßt uns ein weiteres Hofna­mens­schild, der „Urzt“, was ich deswegen witzig und seltsam finde, weil der „Urz“ der Hausname der Hofstelle ist, auf der ich aufge­wachsen bin. Diesen Namen haben weder meine Eltern noch mein Bruder oder ich irgendwo sonst schon einmal gehört, nach dem „Schmie“ definitiv eine kuriose Fügung. Ein paar Kilometer später sind wir am großen Wald ange­kommen, dem Dürn­bucher Forst, jetzt ist es Zeit für eine verspätete Mittagspause. Aufgrund einiger intensiver Foto­sessions und meines Inter­vall­fastens habe ich seit 18 Stunden nichts mehr gegessen und dem Pilgertrip ungewollt gleich noch einen aske­tischen Aspekt hinzu­gefügt. Bevor wir in den Wald eintauchen, passieren wir ein Land­schafts­schutz­gebiet für Wiesen­brüter und kehren der Zivi­li­sation für die nächsten 12 Kilometer den Rücken. Es ist immer noch Eis auf den Wasser­pfützen, Wenn ich mich umdrehe, stehen die Chancen gut, dass Tobi frisches Wald­schaumkraut mampft, das mit seiner wohl­schme­ckenden Schärfe an Kresse erinnert.

Schnell wird es einsam, die Luft ist mit 7 Grad frisch und klar, Gins­ter­be­stände weisen auf sandige Böden hin. Doch neben den trockenen Stellen befinden sich in diesem Wald auch viele Quellen und Fisch­teiche mit Forellen. Die Wegnamen wie „Fürs­ten­straßl“, „Stachus“, „Spitzweg“ oder „Sie­gen­burger Rittweg“ sagen uns zwar nichts, deuten aber an, dass die Orien­tierung hier eine Rolle spielt. Je weiter wir in die große Einsamkeit vordringen, desto mehr fühlt sich der Forst wie eine andere Welt an. Der medi­tative Charakter, den unsere Wanderung nun erhält, beschwört den Pilger­ge­danken verstärkt herauf. Nach einiger Zeit der Stille wackelt uns auf einmal auf einer ewig langen Geraden ein kleines Licht entgegen. Wir hören nichts und reiben uns die Augen, bis wir erkennen, dass es wohl ein Radfahrer sein muss. Die Dämmerung ist nicht mehr allzu weit entfernt, was macht der hier alleine mitten in diesem großen Wald? Er stellt sich schließlich als ein circa 20-jähriger, bayerisch spre­chender Hipster heraus, der einfach mit seinem „Oma-Radl“ losgezogen ist und den Weg nach Neustadt an der Donau sucht. Von den raren mensch­lichen Begeg­nungen heute ist dies die bizarrste. Wir helfen so gut wir können, können aber eine gewisse Lost-Highway-Stimmung a la David Lynch nicht leugnen.

1.5 Kilometer vor Ankunft verändert sich der Wald deutlich: er wird grüner, uriger, weist mehr Moos, und Heidekraut, die Luft ist feuchter und es riecht nach Pilzen. Dann eine letzte Wendung, die uns über­rascht und verzaubert. Der Wald hat sich in eine graugrüne, samten schim­mernde Halle verwandelt. Ihr Boden erstreckt sich in lang­ge­zogenen, sanften Wellen, darauf ein Teppich aus Moos und Heidel­beerkraut sowie hohe, schlanke Kiefern und vereinzelte, zarte Jungbäume. Ein kleines Wunder, das sich erst ganz am Ende unseres Weges offenbart. So ein Geotop habe ich in der Hallertau noch nie gesehen. Es zieht uns weiter in das Natur­schutz­gebiet hinein und plötzlich sind sie da: Dünen aus feinstem Flugsand, bis zu zehn Meter hoch, von Winden in der letzten Eiszeit hergeweht. Erst nachdem sie hier im Binnenland genügend bewachsen waren, hörten sie auf, sich zu bewegen. Das trockene, magere Areal wird gepflegt, damit seltene Tier- und Pflan­zenarten wie Frühlings-Spark, Sand­s­trohblume und blauf­lü­gelige Sand­schrecke auf den baum­freien, offenen Bereichen mit Silber­gras­fluren und Flech­ten­tep­pichen weiter bestehen können. Deswegen sollte man auch unbedingt auf den Wegen bleiben.

Ich ziehe die Schuhe aus, betreibe am Wegesrand noch ein wenig Shinrin Yoku (Waldbaden) und sauge diesen besonderen Ort mit allen Sinnen auf. Der kalte Sand macht schnell frisch, das Barfußgehen tut meinen Füßen gut. Es war ein berei­cherndes Erlebnis, sich dieses Natur­denkmal zu erwandern und ihm auf diese Weise Respekt zu erweisen. Ein wunderbarer Tag mit vielen uner­warteten, entrückten und nach­denk­lichen Momenten geht zu Ende. Es bleibt ein Gefühl der Demut und Dank­barkeit. Sollte das dem ange­dachten Pilger­feeling nahe­kommen, waren Tobi und ich wohl schon öfters Pilgern, ohne es zu ahnen.

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