Ein sonniger Sonntagmorgen im März. Es hat –4 Grad, hauchdünnes, weißes Eis bedeckt die Wasserpfützen. Raureif liegt noch in den Schatten der Hallertau, jenen bayerischen Hügellandes, wo der Hopfen wächst. Mein Wanderkollege Tobias und ich stehen grinsend in den Startlöchern, die Vorfreude steht uns ins Gesicht geschrieben. Der Grund: wir wollen gleich mehrere Dinge ausprobieren, die wir noch nie gemacht haben. Erstens wollen wir ein uns noch unbekanntes Naturdenkmal aufsuchen, die Binnendünen bei Siegenburg. Zweitens wollen wir nicht nur dorthin wandern, sondern pilgern. Und drittens wollen wir schauen, inwiefern das alles in den einfachen, günstigen, regionalen und erschwinglichen Rahmen eines Micro Adventures passt. Challenge accepted!
Allerdings wäre da noch ein kleines Hindernis… Obwohl wir beide im römisch-katholischen Altbayern aufgewachsen sind, wo zum Beispiel das Pilgern nach Altötting Tradition hat, sind wir noch nie gepilgert. Also haben wir versucht, das Thema für uns zu erschließen. Verfolgt man das Wort „Pilger“ zu seinem Ursprung zurück, endet man beim lateinischen Adverb „per-egrē“, was so viel wie „aus, in der, in die Fremde“ heißt. Außerdem braucht ein Pilger ein symbolisches Ziel, woraufhin uns die unter Schutz stehenden Naturdenkmäler eingefallen sind. Eine Recherche ergab, dass es hier bei uns im Hopfenland einige solcher Denkmäler gibt: Felswände, Steinbrüche, Bäume, Gruben, Quellen, Höhlen, Weiher, Kapellenhügel und… Dünen. Dünen? Das klang vielversprechend. Noch dazu liegt das Naturschutzgebiet mit den Binnendünen bei Siegenburg im Dürnbucher Forst, der mit 44,74 km² eines der größten Waldgebiete Bayerns ist und den wir auch noch nie durchwandert haben. Das mit dem „in der Fremde sein“ ging schon mal in eine gute Richtung. Doch würde sich auch bei einer solch „kleinen“ Pilgerreise schon das angestrebte Zu-sich-Kommen und Entschleunigen einstellen? Wie würde sich unser Trip von einer normalen Wanderung unterscheiden? Was würden wir vorfinden? Wir sind gespannt.
Wir starten von Gosseltshausen bei Wolnzach aus, das Autobahndreieck Holledau lässt grüßen. 27 Kilometer haben wir vor uns. Bereits nach einem Kilometer entdecken wir einen schattigen, mit Raureif überzogenen, steilen Wiesenhang, über dem ein Ranken mit Buchen thront, der das sanfte Morgenlicht nur in weichgezeichneten Streifen hindurchscheinen lässt. Im Hintergrund das wellige Hügelland mit rötlichen, hölzernen Hopfensäulen, das ist Vintage Hallertau – ein würdevoller, feierlicher Auftakt, wie man sich ihn fürs Naturpilgern nicht besser vorstellen könnte. Es ist ein stiller Morgen, nur wenige Menschen sind unterwegs. Wir fangen ein paar verdutzte Blicke ein, wandernde „Rucksack-Dudes“ sind hier die Seltenheit. Die Vögel (Girlitz, Feldlerche, Grünspecht, Kleiber, Meisen, Misteldrossel, Amsel), die wir am Anfang noch auf den Feldern und zwischen Ranken und Waldstreifen gehört haben, hören wir nur noch selten aus der Ferne. Der Asphalt und die um uns liegende Stille lassen unsere Stimmen verloren klingen.
Wir passieren Niederlauterbach und sehen bald auf der gegenüberliegenden Anhöhe die Wallfahrtskirche von Rottenegg. Auch wenn sie uns nach gut sieben Kilometern einen zusätzlichen Anstieg abverlangt, können wir uns diese Station auf unserer heutigen Tour natürlich nicht entgehen lassen. Der Ausblick vom Kalvarienberg über den Ort und das Hügelland ist den kleinen Umweg wert. 1150 wurde hier eine Burg erbaut, davon zeugt noch die Gruft, die ein wenig unterhalb der Bergkirche liegt und früher zu den Kellergewölben der Burg gehörte. 1704 wurde die Burg während des Spanischen Erbfolgekrieges von brandschatzenden österreichischen Reitern und englischen Husaren schwer beschädigt. Die Gräfin Rivera ließ aus den Mauerüberresten 1722 als Andenken an die einstige Burg eine Kapelle erbauen, neben der sich immer noch das Grab des französischen Brigadegenerals H. Lambert befindet.
Für mich geht es ab Rottenegg „in die Fremde“, für Tobi geht es Richtung Vorfahren. Wir durchqueren mit dem 12-Uhr-Läuten Obermettenbach und entdecken nach einer kleinen Hügelrallye in Oberpindhardt einen Hof, an dem ein Schild mit der Bezeichnung „der Schmie“ hängt – es ist der Hof, wo der Bruder von Tobis Großvater dem Schmiedehandwerk nachgegangen ist. Hausnamen sind in der ländlichen Gegend eine schöne Tradition, so kommt nach der kleinen geschichtlichen Exkursion an der Bergkirche nun noch ein Stück Familiengeschichte hinzu. Wir schwelgen bereits in Erinnerungen und Vorstellungen über die Generationen vor uns, noch ehe wir die Hälfte der Strecke hinter uns gelassen haben. Als wir auf eine T-Kreuzung zugehen und uns fragen, wohin wir abbiegen müssen, taucht wie von Zauberhand im Hof neben uns ein graumelierter, freundlicher Herr auf, der mit seinem perfekt sitzenden schwarz-roten Puma-Jogging-Anzug aus dem ländlichen Ambiente heraussticht. Wie sich herausstellt, ist sein Style-Faktor ebenso hoch wie seine Ortskenntnis. Pilger-Glück. Wir schnappen ein paar Routentipps auf und passieren auf dem Weg nach Aiglsbach einen steilen Wiesenhügel, der am Fuß mit harzig-duftenden Holzstößen gesäumt und auf der Kuppe mit einzelnen Kiefern bestückt ist. Ein wunderbares kleines Idyll, das uns ans Altmühltal oder die Toscana denken lässt.
In Aiglsbach grüßt uns ein weiteres Hofnamensschild, der „Urzt“, was ich deswegen witzig und seltsam finde, weil der „Urz“ der Hausname der Hofstelle ist, auf der ich aufgewachsen bin. Diesen Namen haben weder meine Eltern noch mein Bruder oder ich irgendwo sonst schon einmal gehört, nach dem „Schmie“ definitiv eine kuriose Fügung. Ein paar Kilometer später sind wir am großen Wald angekommen, dem Dürnbucher Forst, jetzt ist es Zeit für eine verspätete Mittagspause. Aufgrund einiger intensiver Fotosessions und meines Intervallfastens habe ich seit 18 Stunden nichts mehr gegessen und dem Pilgertrip ungewollt gleich noch einen asketischen Aspekt hinzugefügt. Bevor wir in den Wald eintauchen, passieren wir ein Landschaftsschutzgebiet für Wiesenbrüter und kehren der Zivilisation für die nächsten 12 Kilometer den Rücken. Es ist immer noch Eis auf den Wasserpfützen, Wenn ich mich umdrehe, stehen die Chancen gut, dass Tobi frisches Waldschaumkraut mampft, das mit seiner wohlschmeckenden Schärfe an Kresse erinnert.
Schnell wird es einsam, die Luft ist mit 7 Grad frisch und klar, Ginsterbestände weisen auf sandige Böden hin. Doch neben den trockenen Stellen befinden sich in diesem Wald auch viele Quellen und Fischteiche mit Forellen. Die Wegnamen wie „Fürstenstraßl“, „Stachus“, „Spitzweg“ oder „Siegenburger Rittweg“ sagen uns zwar nichts, deuten aber an, dass die Orientierung hier eine Rolle spielt. Je weiter wir in die große Einsamkeit vordringen, desto mehr fühlt sich der Forst wie eine andere Welt an. Der meditative Charakter, den unsere Wanderung nun erhält, beschwört den Pilgergedanken verstärkt herauf. Nach einiger Zeit der Stille wackelt uns auf einmal auf einer ewig langen Geraden ein kleines Licht entgegen. Wir hören nichts und reiben uns die Augen, bis wir erkennen, dass es wohl ein Radfahrer sein muss. Die Dämmerung ist nicht mehr allzu weit entfernt, was macht der hier alleine mitten in diesem großen Wald? Er stellt sich schließlich als ein circa 20-jähriger, bayerisch sprechender Hipster heraus, der einfach mit seinem „Oma-Radl“ losgezogen ist und den Weg nach Neustadt an der Donau sucht. Von den raren menschlichen Begegnungen heute ist dies die bizarrste. Wir helfen so gut wir können, können aber eine gewisse Lost-Highway-Stimmung a la David Lynch nicht leugnen.
1.5 Kilometer vor Ankunft verändert sich der Wald deutlich: er wird grüner, uriger, weist mehr Moos, und Heidekraut, die Luft ist feuchter und es riecht nach Pilzen. Dann eine letzte Wendung, die uns überrascht und verzaubert. Der Wald hat sich in eine graugrüne, samten schimmernde Halle verwandelt. Ihr Boden erstreckt sich in langgezogenen, sanften Wellen, darauf ein Teppich aus Moos und Heidelbeerkraut sowie hohe, schlanke Kiefern und vereinzelte, zarte Jungbäume. Ein kleines Wunder, das sich erst ganz am Ende unseres Weges offenbart. So ein Geotop habe ich in der Hallertau noch nie gesehen. Es zieht uns weiter in das Naturschutzgebiet hinein und plötzlich sind sie da: Dünen aus feinstem Flugsand, bis zu zehn Meter hoch, von Winden in der letzten Eiszeit hergeweht. Erst nachdem sie hier im Binnenland genügend bewachsen waren, hörten sie auf, sich zu bewegen. Das trockene, magere Areal wird gepflegt, damit seltene Tier- und Pflanzenarten wie Frühlings-Spark, Sandstrohblume und blauflügelige Sandschrecke auf den baumfreien, offenen Bereichen mit Silbergrasfluren und Flechtenteppichen weiter bestehen können. Deswegen sollte man auch unbedingt auf den Wegen bleiben.
Ich ziehe die Schuhe aus, betreibe am Wegesrand noch ein wenig Shinrin Yoku (Waldbaden) und sauge diesen besonderen Ort mit allen Sinnen auf. Der kalte Sand macht schnell frisch, das Barfußgehen tut meinen Füßen gut. Es war ein bereicherndes Erlebnis, sich dieses Naturdenkmal zu erwandern und ihm auf diese Weise Respekt zu erweisen. Ein wunderbarer Tag mit vielen unerwarteten, entrückten und nachdenklichen Momenten geht zu Ende. Es bleibt ein Gefühl der Demut und Dankbarkeit. Sollte das dem angedachten Pilgerfeeling nahekommen, waren Tobi und ich wohl schon öfters Pilgern, ohne es zu ahnen.