Von Küste zu Küste
Grönland - Profibergsteiger, Extremkletterer und LOWA-PRO-Team-Athlet Stefan Glowacz setzte sich im Sommer und Herbst 2018 eine besondere Expedition zum Ziel: Einmal Grönland und zurück – und zwar per Boot, auf Skiern und per Kite.
Am 11. Juli 2018 um halb zehn Uhr morgens ging es an der Westküste Schottlands los: Das Segelboot „Santa Maria“ stach in See und das Abenteuer begann. Begleitet wurde Glowacz auf dieser Expedition von Philipp Hans, Thomas Ulrich und der Schiffscrew um Skipper Wolf Kloss, Sohn Dani Kloss und Maat Jan Kiehne. Während sich Glowacz und seine Crew über das grönländische Inlandeis kämpfen wollten, hatte die Schiffscrew die Südspitze Grönlands auf dem Plan – circa 1.800 Seemeilen. Gut einen Monat hatten beide Teams Zeit, sich am vereinbarten Treffpunkt Scoresbysund an der Ostküste wiederzutreffen. Doch bereits zu Beginn der Expedition kam der Zeitplan ins Wanken. Zuerst musste das Segelboot starken Stürmen trotzen und zusätzlich erschwerten Eisberge, Nebel und Nordwind an der Westküste von Grönland die Reise. Bevor das grönländische Festland erreicht wurde, hatte die Unternehmung bereits zehn Tage Verspätung. In der Diskobucht im Atta Sund gingen Glowacz, Hans und Ulrich erstmals an Land. Hier trennten sich die Wege der beiden Crews.
DAS WETTRENNEN BEGINNT
Etwa 30 Tage Zeit hatten sich Glowacz, Hans und Ulrich für die Überquerung des Inlandeises gegeben. Ein abenteuerliches Vorhaben, das nur durch den Einsatz von Kites denkbar war. Die Bedingungen waren allerdings extrem. Die Temperaturen sanken auf minus 40 Grad Celsius. „Morgens, wenn ich den Arm aus dem Schlafsack nahm, hatte ich das Gefühl, in eine Tiefkühltruhe zu greifen. Das Problem war, dass ich mit dem restlichen Körper gleich hinterherspringen musste“, beschreibt Stefan Glowacz die eisigen Temperaturen. Der Fahrtwind während des Kitens tat sein Übriges, um die Männer noch weiter abzukühlen. Doch jeder Kilometer mit den Kites ersparte ihnen mühsame Fußwege. Sie kamen gut voran und die anfänglichen Bedenken und die Sorgen, es nicht zu schaffen, waren plötzlich wie verflogen: Das Inlandeis-Team schaffte die angesetzten 1.000 Kilometer besser und schneller als erwartet.
AUSSTIEG AUS DER CREW
Bei der Schiffscrew lief es währenddessen leider nicht so gut. Anfang September lag die „Santa Maria“ immer noch im Fjord von Tasiilaq, über 700 Seemeilen vom Treffpunkt entfernt. Maat Jan hatte sich eine Infektion am Finger zugezogen und musste in der Stadt behandelt werden. Die langsam beginnenden Herbststürme sorgten zudem dafür, dass das Segelschiff nicht weiterfahren konnte. Die Expedition stand auf der Kippe. Doch einige Tage später kam die Entwarnung: Die „Santa Maria“ konnte ihre Reise fortsetzen. Maat Jan musste leider aufgrund seiner Verletzung aussteigen, doch Skipper Wolf segelte mit seinem Sohn Dani weiter.
SIE HABEN ES GESCHAFFT
Glowacz, Hans und Ulrich standen somit am 17. September in ihrem Camp 100 Meter über dem Wasser und sahen die „Santa Maria“, wie sie hinter einem Eisberg in die Bucht einfuhr. Beide Crews hatten es geschafft. Gemeinsam traten sie den Rückweg an. Nach kurzen Nächten, meterhohen Wellenbergen und heftigen Herbststürmen erreichte schließlich die fast komplette Crew nach gut drei Monaten am 6. Oktober den Hafen von Mallaig an der Westküste Schottlands.
„Ich habe Dimensionen in den Wüsten aus Wasser und Eis kennengelernt, die ich nie für möglich hielt. Am Morgen aus dem Zelt steigen und nichts anderes zu sehen als eine weiße Ebene bis zum Horizont. Am Kite hängen und den Schnee unter meinen Skiern vorbeisausen sehen. Am Abend nach zehn Stunden im Sturm wieder ins Zelt kriechen und mich sicher fühlen. Diese Augenblicke werde ich nie vergessen. Sie bedeuten für mich den wahren Reichtum des Lebens.“
OHNE KITES WÄRE DIE EXPEDITION KAUM ZU SCHAFFEN GEWESEN
Ich habe Dimensionen in den Wüsten aus Wasser und Eis kennengelernt, die ich nie für möglich hielt. Am Morgen aus dem Zelt steigen und nichts anderes zu sehen als eine weiße Ebene bis zum Horizont. Am Kite hängen und den Schnee unter meinen Skiern vorbeisausen sehen. Am Abend nach zehn Stunden im Sturm wieder ins Zelt kriechen und mich sicher fühlen. Diese Augenblicke werde ich nie vergessen. Sie bedeuten für mich den wahren Reichtum des Lebens.
EINE EINZIGE QUAL
Die "Von-Küste-zu-Küste"-Expedition war ein Erfolg. Doch Stefan Glowacz konnte diesen nicht so recht feiern. Auf seiner Expeditionsliste stand ein weiterer Punkt, den er nicht abhaken konnte: die Erstbegehung einer Big Wall in Grönland. Doch die anhaltenden Schneefälle ließen keine Hoffnung auf das Erreichen dieses Ziels zu.
FEHLDENDES PUZZLESTÜCK
Das fehlende Stück, das Glowacz zum erfolgreichen Abschluss des Abenteuerpuzzles Grönlands noch fehlte, sollte im Jahr 2019 eingesetzt werden: die Erstbegehung der 1.300 Meter hohen Nordwand des Grundtvigskirken (1.977 Meter) an der Ostküste Grönlands. Start der Expedition ist wieder Anfang Juli in Starnberg. Dieses Mal geht es per Bahn nach Schottland und von dort wieder mit der „Santa Maria“, dem Schiff aus der Vorjahresexpedition, über Island nach Grönland. Auch bei dieser Reise soll der ökologische Fußabdruck so gering wie möglich gehalten werden. Nach ein paar Tagen Verzögerung konnte die Seilschaft um Stefan Glowacz, Philipp Hans, Markus Dorfleitner, Christian Schlesener und den Fotografen Moritz Attenberger sowie der Schiffscrew Ende Juli in Grönland anlegen und am 1. August das Basislager am Fuße des Grundtvigskirken einrichten.
GLÜCK IM UNGLÜCK
Gleich am nächsten Morgen war es dann endlich soweit. Frühmorgens machten sich die Kletterer auf den Weg vom Basislager zum Einstieg an der Nordwand. Stefan Glowacz und Philipp Hans, der bereits ein Jahr zuvor bei der Expedition dabei war, durften als erstes in die Wand einsteigen, während die restliche Mannschaft unten am Einstieg bei einer Gletschermoräne wartete. Der Plan war simpel: Aufgeteilt in zwei Teams sollte in Abständen von ein bis zwei Tagen an der Wand gearbeitet werden. Doch dieser Plan sollte sich nicht erfüllen. Nach etwa 50 Metern, als Stefan gerade zwei Standhaken bohrte und Seil darin fixierte, knackte es lautstark. „Auch die Jungs unten auf dem Gletscher hörten es und jeder ging davon aus, dass dieses Geräusch vom Gletschereis kam“, erklärt der LOWA-PRO-Team-Athlet die brenzlige Situation. Doch als es kurz darauf erneut knackte, war Stefan klar: Es war nicht der Gletscher! „Ich stehe völlig ungeschützt und fest fixiert am Standplatz. Kein Vorsprung befindet sich in meiner Nähe, unter den ich bei Steinschlag flüchten könnte. Es knackt ein drittes Mal, wesentlich lauter als zuvor. Panik steigt in mir auf. Ich weiß in diesem Moment, dass etwas Schreckliches jeden Augenblick passieren wird, es geht nur noch um die Frage in welcher Dimension: Ein paar Steine oder eine ganze Steinlawine?“, notiert der Extremkletterer in sein Tagebuch. Es sollte zum Schlimmsten kommen. Etwa 100 Meter über den beiden brach lautlos eine tischgroße Granitplatte aus dem Felsen und raste auf Stefan und Philipp, der 15 Meter unter Stefan in der Wand hing, zu. Jetzt konnten sie sich nur noch so fest wie möglich gegen die Wand drücken und beten. Sie hatten Glück! Etwa 50 Meter über ihnen zerbrach die Platte an einem Felsvorsprung: „Wie Geschosse zischen die Brocken links, rechts und hinter uns in die Tiefe. Dumpf schlägt ein Stein auf meinem rechten Oberschenkel ein, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Dann der nächste Einschlag auf meinem rechten Unterarm, “ dokumentiert Glowacz den Steinschlag. „In diesem Augenblick spürte ich keine Angst oder Panik, ich war einfach nur vollkommen gefasst. Die Einschläge um mich herum wurden weniger und plötzlich herrschte nur noch Stille. Immer noch harrte ich in meiner Position aus und wartete auf die nächsten Brocken. Mir wurde durch den Schock übel, als ich mich langsam aufrichtete. Ich hatte Angst davor, nach Philipp zu schauen, aber wie durch ein Wunder hatte er nur einen ‚Streifschuss‘ am Oberschenkel abbekommen“, erklärt Stefan erleichtert. Unter Schmerzen und mit blutenden Wunden ging es nur noch darum, so schnell wie möglich von der Wand wegzukommen. Auf der Moräne nahmen die Wartenden Stefan und Philipp in Empfang und versorgten Stefans Wunden. Ein Teil kehrte ins Basislager zurück, während Philipp und Christian es nochmal an zwei anderen Stellen versuchten. Vergebens! Auch der Versuch am nächsten Tag blieb erfolglos – die Nordwand ist zu brüchig und dadurch zu unkalkulierbar.
SUFFER AND SMILE – BOYS DON’T CRY
Das Team entschied auf den Südgrat auszuweichen und es in der Südwand zu versuchen. Gesagt, getan! Am 6. August ging es los – auch Stefan ließ es sich nicht nehmen und wollte unbedingt dabei sein. Unter Schmerzmitteln und nur mit Hilfe seiner Teamkollegen, die ihm Gepäck abnahmen und ihn immer wieder aufbauten und motivierten, war daran überhaupt zu denken. Denn, auch wenn Stefan Glowacz schon sehr viele Touren und Expeditionen überstanden hat, dieses Erlebnis in der Wand war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. „Ich bin völlig verunsichert. Bei jedem Schritt, bei jedem Tritt und Griff hadere ich mit mir. Immer wieder steigt an besonders ausgesetzten Stellen Panik in mir auf. Es ist eine einzige körperliche und seelische Qual“, schildert der LOWA-PRO-Team-Athlet seine Gefühlslage. Am späten Abend erreichten sie die Stelle, die sie für das Biwak auserkoren hatten. Am nächsten Morgen ging es weiter und obwohl sie gut vorankamen, dauerte es bis kurz nach Mitternacht, bis Stefan Glowacz und seine Teamkollegen Philipp Hans, Markus Dorfleitner, Christian Schlesener und der Fotograf Moritz Attenberger nach 16 Stunden den Gipfel erreichten.
Der Abstieg erfolgte über die gleiche Route, die sie zuvor bereits genommen hatten. An ihrem Biwakplatz legten sie eine kurze Pause ein, um dann kurz vor Mitternacht wieder am Basislager anzukommen. Sie hatten es geschafft. Das Abenteuerpuzzle Grönland war vollendet. Der Name der Tour stand nach einem Glas schottischen Whiskeys schnell fest: suffer and smile – boys don’t cry!
„Im Osten deutet ein blutroter Streifen bereits wieder der den Aufgang der Sonne an, die eigentlich nie untergangen ist. Im Norden schimmern unzählige, riesige Eisberge im diffusen blau der nicht existieren Nacht. Es ist vollkommen windstill, und ich bin einfach nur glücklich und dankbar in diesem Moment. Vor allem den Jungs, ohne deren Einsatz, Zuspruch und Hilfe ich nie auf den Gipfel gekommen wäre!“